Inzwischen sind auch ein paar weitere Bösewichte mit am Set, die aufpassen, dass nicht noch was passiert. Denen will man nicht nachts alleine auf der Straße begegnen. In Wirklichkeit natürlich sehr sympathische Herren, wahrscheinlich rührende Familienväter. Sie können aber nicht verhindern, daß auch Vera, der Ersatz für die ermordete Betty Winter, von dem unheimlichen Phantom bedroht wird. Charlotte will ihrer alten Freundin das Leben retten und folgt ihr auf die Beleuchterstege in schwindelerregende Höhe. Sogar die Hauptdarstellerin. Also halb, denn jetzt ist auch eine Stunt-Charlotte mit von der Partie. Unser Einsatz: als wir die Hilferufe von oben hören, rennen wir unter den Beleuchtersteg. Charlotte kämpft mit dem Phantom. Charlotte fällt. In mehreren Etappen. Und in der letzten müssen wir anpacken. Denn wir sind das „Feuerwehrtuch“.

Der Armenier hat Unterstützung bekommen. Ein paar dunkle Gestalten sind am Set aufgetaucht.

Der Armenier hat Unterstützung bekommen. Ein paar dunkle Gestalten sind am Set aufgetaucht.

Etwa zehn Komparsen stehen bereit, Charlotte zu retten. Sie fällt….und…. Aber nein, erstmal zurück. Das muss natürlich ordentlich geprobt werden. Zunächst mit der Stuntfrau. Von einer Leiter lässt sie sich rückwärts runterfallen. Und das erste Mal geht gleich fast daneben. Kurze mahnende Ansprache an die Komparsen, die bei ihrem Fall vor Schrecken ein Schritt zurückgetreten sind. Jetzt müssen die Tänzer nach vorne, denn die wissen, wie man einen Menschen fängt. Nicht die Hände nach oben strecken, da bricht man sich höchstens das Handgelenk. Sondern von sich gestreckt nach vorne. Jetzt läuft es. Das Double geht Stufe um Stufe nach oben, bis sie fast ganz oben auf der Leiter angekommen ist. Wir sind bereit für Charlotte, guter Dinge. Jeder bemüht sich um den passenden Spruch. Jetzt endlich können wir sagen, „wir haben eine tragende Rolle“. Und wie cool ist Liv Lisa Fries.

Ein Urvertrauen in unsere Fähigkeiten. Zurecht natürlich, denn was für eine Ehre ist es, die Hauptdarstellerin zu retten. Gibt es hier eigentlich eine Stuntzulage, wird kurz diskutiert. Für diese Mission hätte ich auch drauf gezahlt. Auch Liv Lisa Fries verliert in dieser auch für sie sicherlich nicht ganz alltäglichen Szene nicht den Humor, reagiert auf unsere Sprüche. Als sie dann mit gespreizten Beinen von uns waagerecht in der Luft gehalten wird und die Kamera von unten Film, kommentiert sie nur trocken: „ok, was ich an meinem Job liebe…“ Auch Charlotte steigt höher…und jetzt wird es ernst. Aber wir sind ja zehn starke Männer – und vor allem sind jetzt auch Czerwinski und Henning dabei. Mit denen kann es ja nicht schief gehen. Nur drei Takes, dann ist die Regie zufrieden. Geschafft. Großes Lob von Tom…ist ja schließlich unsere Hauptdarstellerin. Und wir sind stolze Lebensretter.

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Charlotte, vertrau uns! Wir retten Dich. ©x-filme Fréderic Batier

Der letzte Tag bricht an. Und für uns passiert…nichts. Der Tag zieht sich, aber wir kommen einfach nicht zum Einsatz. Innen in der Halle wird eine weitere Stuntszene mit Charlotte gedreht, kein Zutritt für Komparsen.

Der Tag und die Gesichter werden länger und länger. Immer häufiger Blick auf die Uhr. Ein Highlight natürlich, wenn das Extra-Catering uns etwas Neues zu essen bringt. Oder wir sogar vom Crew-Catering naschen können.

Jetzt ist es kurz vor Mitternacht. Wir diskutieren mit unserem Komparsenbetreuer, wie es weitergeht. Irgendwann fährt der letzte Zug nach Berlin und für einige von uns bedeutet das, das sie von Berlin ihren Anschluss nicht mehr bekommen. Dann geht es endlich zum Set. Aber nach einem kurzen Blick in die Monitore heißt es plötzlich „Feierabend!“. Wir werden für das letzte Bild doch nicht benötigt. Das war’s. War’s das wirklich? Kein Schampus, keine Party, nur schnell das Kostüm abgeben, die Anwesenheitszettel unterschreiben und dann zur Bahn. Die sieben Drehtage sind vorbei. Anstrengend und einmalig, trotz eines etwas unglamourösen Endes. Erstmal sacken lassen, aber ich weiß jetzt schon, dass ich davon noch lange zehren werde.

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Binge-Watching im Kino. Und eigentlich ist die Serie für die große Leinwand noch viel besser geeignet.

Abspann. Neun Monate später. Samstag vormittags vor dem Kino Delphi. Sie sind wieder da. Diesmal aber nicht als Charlotte und Gereon, sondern Liv Lisa und Volker. Und auch viele andere Schauspieler. Dazu die Crew – und die ganzen Beteiligten an der „Post“, der Postproduction. Man kennt sich. Es ist Team-Viewing. Erst kurz vorher sind die letzten Szenen abgesegnet worden und jetzt bereit, von der ganzen Babylon-Familie begutachtet zu werden. Es ist tatsächlich wie ein Familienausflug ins Kino. Die Stimmung ist knisternd, elektrisierend, euphorisch, hat doch bis auf das engste Team um Regisseure und Produzenten keiner das komplette Ergebnis gesehen.

Henk, Achim und Tom bedanken sich nochmal, aber kurz, sehr kurz. Denn jetzt gilt es, zwölf Folgen Serie zu schauen…Binge Watching im Kino, was für ein tolles Erlebnis. Nach ein paar Sekunden schon bricht Jubel aus: Gereon ist das erste Mal auf der Leinwand zu sehen. Wird er seinen Fall lösen können? Wird sein Bruder sich offenbaren? Was wird aus Charlotte und Gereon, kommen die beiden sich endlich näher. Werde ich mich wiederfinden? Das weiß ich immerhin schon nach 15 Minuten. Angestrengt schiebe ich meine Tonangel. Vielleicht eine Sekunde… Gegen Mitternacht werden wir auch Antworten auf die anderen Fragen bekommen haben.

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Am 19.12. 2019 dann die große Premiere im Zoo-Palast.

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Ein bißchen Stolz sei ihm erlaubt…Tom Tykwer im Vordergrund. Einige der Hauptdarsteller hinten.

Und danach heißt es: Feiern! Die Bar Tausend, Drehort auch von Staffel 3, ist reserviert für Babylon Berlin.

Für mich geht ein Abenteuer zu Ende – was für ein Glück, ein kleiner Teil dieser besonderen Familie gewesen zu sein.

Wenn man mich heute fragt, was einer der schönsten Momente meines Lebens war: die sieben Tage mit Babylon Berlin stehen ganz oben. Staffel 4 kann kommen!

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Die Augenringe sind jetzt übrigens echt. Da hat die Maske weniger Arbeit. Und dass ich mich schon gestern Abend rasiert habe, wird sofort bemerkt. Kommt nicht wieder vor. Jede Kleinigkeit fällt auf. Mal eben die Ärmel hochgekrempelt? Nach ein paar Minuten kommt jemand vom Kostüm. Guckt dich kritisch an. Und schon ist der Ärmel wieder unten. Die Haare, auf dem Weg zur Halle vom Winde verweht? Wo hast Du denn die fesche Locke auf einmal her? Schnell nochmal geglättet…Nichts entgeht den Kollegen von Maske und Kostüm. Notfalls hilft ein Blick in die Fotodatenbank.

Sind noch genügend Zigaretten in meiner Schachtel? Ich brauche Nachschub. Dafür ist das Zigaretten-Frollein zuständig, wie wir sie nennen. Sie dreht und verteilt die Zigaretten. Sowieso die Zigaretten: ich habe mich als Gelegenheitsraucher bereit erklärt, auch am Set einen der Raucher zu mimen. Was wird alles in Babylon Berlin weggeraucht! Ständig hat Gereon eine Fluppe im Mund. „Zu viel kann man wohl rauchen, doch raucht man nie genug“: so warb die Zigarettenmarke Massary in den Zwanziger Jahren. Damals explodierte der Pro-Kopf-Verbrauch von Zigaretten und auch die Kreativität bei der Vermarktung. Die Pfeife gehörte der gemütlichen Vergangenheit an. Die Zigarette passte zur Gegenwart. Tempo, Tempo, keine Zeit!  „Es geht ein Spruch von Mund zu Mund, der tut es allen Rauchern kund: Aus gutem Grund ist Juno rund“ – die Marke von Charlotte.

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Die Werbung für die Marke Juno aus der Firma Josetti. An die Berliner Firma erinnere noch die Josetti-Höfe in der Rungestraße in Mitte.

Gereon bevorzugt Overstolz. Na klar, die Marke kommt aus seiner Heimat, dem Haus Neuerburg in Köln.  Am letzten Drehtag bringe ich dann noch meine eigene Dose mit, gerade frisch über ebay eingeflogen: eine echte Overstolz-Dose! Die Herkunft weniger golden, eher braun: aus Wehrmachtsbeständen, steht auf der Beschreibung.

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Ersteigert bei Ebay. Overstolz, Gereons Marke und Zuban Dany – die gab es auch am Set und dann später bei mir zuhause.

Die Zigaretten schmecken so aber auch nicht besser. Was ich nicht berücksichtigt hatte: die erste Filterzigarette kommt erst 1934 auf den Markt. Bei den ganzen Wiederholungen würde ein Nikotinflash wohl bald bevorstehen. Daher steige ich schnell auf Kräuterzigaretten um. Schmeckt nicht, tut aber nicht weh. Übrigens: natürlich steht die Feuerwehr bereit, die ganze Zeit. Passt ganz gut zu dem historischen Schild an der Wand: „Rauchen und jeder Gebrauch von offenem Feuer ist polizeilich strengsten verboten“. Das Zelluloid könnte ja Feuer fangen, da hatte die UFA damals so richtig Angst.

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also, wer hat da mal wieder gequalmt…? In dieser Ecke sitzt Walter Weintraub alias Ronald Zehrfeld und schaut sich die Dreharbeiten an.

Drehpause: das bedeutet für viele Rückzug in die Aufenthaltsräume, vielleicht gibt es ja Nachschub vom Catering. Je länger der Dreh, desto mehr Süßes. Zucker hilft gegen Müdigkeit. Aber die Brötchen, von denen Charlotte eine Gurkenscheibe genommen hat, sehen auch verdammt lecker aus. Ich habe vorhin beim Schmieren zugesehen: Bio-Salami aus der Schorfheide, Körnerbrötchen (gab es damals schon Körnerbrötchen oder nur die gemeine Berliner Schrippe?). Aber die gehörten ja zu den Props, den Requisiten. Absolutes Tabu, da darf keiner ran. Aber irgendwann fehlt dann tatsächlich ein Brötchen. Keiner will es gewesen sein. War es vielleicht das Kerlchen? Oder doch der Beleuchter? Herr Rath, übernehmen Sie!

Ich darf mich ein bißchen umschauen und auch ein paar Fotos machen. Mal wieder Detailsuche:

Den Speiseplan hatte ich ja schon am ersten Tag studiert. Der Plan der U-Bahn ist hoffentlich auch aktuell, denn mit der U8 ist erst kurz vorher eine neue Linie eröffnet worden. Und die U5 wird erst nächstes Jahr, 1930, offiziell in Betrieb gehen.  Hinten, bei der Sitzecke mit den schweren, aber extrem gemütlichen Sofas, steht eine elegante Cognacflasche. Von der hat Walter Weintraub am Vortag probiert. Wahrscheinlich Apfelsaft. Ein paar Zigarettenkippen liegen in dem Aschenbecher, auch Teil der Requisite natürlich. Nebenan im Maskenraum steht eine Flasche Speick Köllnisch Wasser. Gab es das schon 1929? Das Unternehmen feierte da seinen ersten Geburtstag und war mit Seifen auf dem Markt. Naja, sieht auf jeden Fall alt aus. Und was muss das nur für eine Freude sein, die ganzen alten Zeitschriften und Plakate aufzutreiben und zu reproduzieren. Zum Lesen allerdings taugen sie kaum: nur der Einband ist auf alt gemacht. Innendrin liegt ein SPIEGEL.

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Das ist tatsächlich eine Drehort. Die Film-Maske. Was für eine Fundgrube. Toll, welche Details da ausgegraben werden. Erkennt ihr die Filmstars?

Was passierte ansonsten noch? Immer wieder wird das große Tor zur Halle aufgemacht. Gereon und Charlotte kommen rein. Es ist schon Abend, aber die Szene soll tagsüber spielen. Daher sind draußen große Scheinwerfer aufgebaut, die bei dem Öffnen des Tors gleißendes Licht in die Halle fallen lassen. Ach Film, die große Illusionsmaschine, die Traumfabrik! Und später geht es für uns raus auf den Gang. Frieren ist angesagt. Charlotte will den Armenier befragen, aber er will nicht. Wir schauen zu. Das ist unsere Hauptbeschäftigung in den letzten Tagen. Aber dann, Tag sechs: kurz vor Ende unserer Dreharbeiten wird es nochmal richtig spannend. Wir sollten ein Menschenleben retten. Nicht irgendeines. Es geht um die Hauptdarstellerin!

 

 

Sie sind alle da. Gereon und Charlotte, die Polizeikollegen Czerwinski und Henning der Fotograf Reinhold Gräf – das sind die Guten. Dazu noch die Künstler, Vera, Tristan und Esther. Dann kommt die Unterwelt, präsent mit dem Armenier und seinem Partner Walter Weintraub. Alle am Set präsent. Es hätte wirklich schlimmer kommen können für uns. Schwergewichte und Newcomer des deutschen Films…die Klatschpresse hätte ihre wahre Freude. Vor allem heute: Es ist Familientag! Der Schauspiel- und Regienachwuchs steht in den Startlöchern, naja, ein paar Jahre noch. Auch die Kollegen schauen vorbei.

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Achim von Borries, Setfoto aus Staffel 2, @x-filme, Fréderic Batier

 

Achim von Borries, der zweite im Bunde des Regisseur-Trios, hat schon im Dezember seine letzten Drehtage hinter sich gebracht und guckt, was sein Partner so macht. Und wenn Achim kommt, wird es heiter. Nirgendwo wird so viel gelacht wie bei Achim, hat Volker Bruch mal gesagt. Sogar bei ernsten Szenen lacht man sich schlapp. Nikko Weidemann, verantwortlich für die so eingängige wie überraschende Musik für die ersten Staffel, ist auch da. Bei der dritten Staffel wirkt er nicht mit, aber sein Moka Efti Orchestra tourt ja auch von einer ausverkauften Show zur nächsten. Wird unser neuer Ohrwurm, der Film-Musical-Hit, mit „Zu Asche zu Staub“ mithalten können?

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Nikko Weidemann und seine Kollegen Mario Kamien und Sebastian Borkowski. Und Sängerin Severija natürlich. © Joachim Gern/Another Dimension/dpa

 

Die große Babylon Berlin-Familie, das ist hier tatsächlich keine leere Phase. Weil hier wirklich Familie eine Rolle spielt. Mir kommt ein Interview mit Tom Tykwer in den Sinn, in dem er über die Bedeutung von Familie und Privatleben spricht. Er fragte sich, wie es möglich ist, daß die Amerikaner in kürzester Zeit eine riesige Serie nach der anderen raushauen. Machen wir hier etwas falsch, fragt er sich, weil es in Deutschland doch etwas langsamer geht. Und ruft dann Serienmacher in den USA an: „Wie macht ihr das, ohne kurz vorm Tod zu stehen?“ – und die völlig frustrierende Antwort war: „Wir stehen alle kurz vorm Tod!

Kurz vor dem Tod stehen wir jetzt auch. Wenn wir denn dem Armenier widersprechen. Wir drehen inzwischen weiter. „Ihr habt nichts gesehen. Habt ihr das verstanden?“ herrscht Mišel Matičević uns, die Filmcrew, die Tänzer und die Musiker an. Drohend schaut er uns an, nur ein klägliches Ja kommt einigen über die Lippen. Misel lacht. „Wirke ich so böse? Ich tue euch nichts“. Sowieso Matisevic, er kokettiert mit seiner Rolle als Bösewicht. Noch mehr, als Ronald Zehrfeld mit dazu kommt, das Duo Infernale. In einer meiner Lieblingsserien, „Im Angesichts des Verbrechens“, stehen sie sich feindlich gegenüber. Der eine ist Polizei, der andere ist Mafiaboss in Berlin. Bei Babylon sind sie beide auf der Seite der Unterwelt. Aber dabei maximal gut gelaunt.

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Mišel Matičević alias der Armenier. So stilvoll kleiden sich Ganoven! ©x-filme Fréderic Batier

Es ist eine einmalige Erfahrung, mit all diesen großartigen Schauspielern zu drehen und zu sehen, wie sie arbeiten. Natürlich alle hochkonzentriert. Aber alle auch anders. Volker Bruch spricht vor dem Dreh seine Sätze noch einmal halblaut vor sich hin. Liv Lisa Fries diskutiert gerne nach ihren Szenen mit Tom Tykwer. Das passt gut, denn auch Tom ist ja, so Volker Bruch, extrem auf Details fixiert. Der Mathematiker unter den drei Regisseuren. Soll sie sich eine Gurke von dem Deko-Brötchen stibitzen? Oder sich halb auf den Tisch der Maskenabteilung setzen, während sie das Treiben im Studio beobachtet. Sie ist ja jetzt richtig drin im Ermittlerteam, das war das Ergebnis von Staffel 3. Aber anerkennen tun das noch nicht so alle. Der Armenier, dessen Kühlraum aus Staffel 2 sie noch in Erinnerung haben, serviert sie ähnlich kühl ab.

Der Regieassistent ruft: „jetzt nochmal die Szene mit Charlotte und Wolter“. Kurzes Stutzen. Wolter? Ist doch längst tot, am Zug auf dem Weg nach Russland gegrillt worden. War nur ein Versprecher. Gereon, nicht Wolter sollte es sein. Lachen am Set. Übrigens: hier sprechen alle von Gereon, von Charlotte, von dem Armenier – keiner am Set nennt die Schauspieler mit echtem Namen. Und auch als ich draußen einmal kurz mit Liv Lisa Fries spreche, kommt zunächst ein „Charlotte“ über meine Lippen. Sie nimmt es mit Humor. Richtig Humor haben auch das Traumpärchen Henning und Czerwinski. Henning, gespielt von Thomas Merten, treffe ich dann tatsächlich an einem der kommenden Abende in unserem Kiez wieder, Feierabendbier. Irgendwann will er einen Film machen über das Haus, in dem er wohnt. So viele Geschichte, so viele Geschichten.

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Pause. Warten. Chillen.

Wieder Pause. Und es sind neue Leute am Set. Diesmal die Presse. Ein paar ausgesuchte Journalisten dürfen das Set besichtigen. Es sind ja auch spektakuläre und sehr aufwändige Szenen, die einen guten Eindruck von der Professionalität des ganzen Teams geben. Etwas im Hintergrund hält sich ein weiteres Mitglied der Babylon Berlin-Familie. Naja, eigentlich steht Volker Kutscher ja für eine, seine eigene Familie. Er ist der Autor der Bücher um Gereon Rath, die auch die Vorlage für die ersten drei Staffeln waren. Ich hatte mit ihm ein paar Mal gesprochen, als noch nicht klar war, daß wir eine Tour zur Serie machen. Eine Tour zu den Büchern wäre natürlich auch hochspannend. So viele inhaltliche Hintergründe zur Weimarer Republik, so viele Details zu Politik, Kultur, Alltag hat Volker Kutscher zusammengetragen – in der Gereon-Rath-Saga lernt man mehr über die Zeit als in manchem Sachbuch.

Aber Details findet er auch hier genug. Die ganze Marlene Dietrich-Halle ist ja wie ein Museum der 20er Jahre. Die Halle selbst ein Original, viele Requisiten auch und den Rest hat die Requisitenabteilung täuschend echt erschaffen.

Bis ins kleinste Detail – und immer wieder erlebt man Überraschungen. Zum Beispiel bei den Zigaretten…

Das ZDF Morgenmagazin geht auf Zeitreise mit uns – zurück in die Zwanziger Jahre und zu den Originalschauplätzen der Zeit. Es gibt Blutwurst, Spree Schampus und Asta Nielsen…

Hallo, hier ist Asta Nielsen, wer ist da? ZDF-Moderator Peter Twiehaus kann nicht widerstehen. In der Pension wo der erste Filmstar überhaupt, Asta Nielsen gewohnt hat, stehen noch alte Telefone in den Zimmern. Mit Drehscheibe. Und die funktionieren. Nur Asta Nielsen ist schon lange weg. Aber man kann in der großbürgerlichen Wohnung des Stummfilmstars übernachten und in dem ehemaligen Salon der Nielsen frühstücken. Pension Funk heißt dieser komplett aus der Zeit gefallene Ort, mit großem Engagement von Michael Pfundt betrieben. Wir trinken hier erstmal den Spree Schampus, eine interessante Kreation der Preußischen Spirituosen Manufaktur.

Das war die erste Station, die wir dem ZDF auf unserer Reise 100 Jahre zurück gezeigt haben. Dann treffen wir noch, nach drei Stunden Friseurbesuch, Anna Rebekka Helmy in dem Wirtshaus Wilhelm Hoeck. „Futtern wie bei Muttern“ ist hier das Motto. An das Eisbein traut sich keiner ran, aber „Arne’s Vermächtnis“ ist unser Favorit: nach einem Kellner benannt, verbirgt sich dahinter eine köstliche Blutwurst. Am Ende geht es noch zum Rosa-Luxemburg Platz. Ein bißchen historisch die ganze Zeit einordnen und auch mal gerade stellen, daß das nicht alles golden war in den Zwanziger Jahren…Was für ein großartiger Dreh! Da zahlt man doch gerne seine Gebühren…

 

Die Pausen. Immer wieder die Pausen. „Warten“ und „Wiederholen“, die beiden „W‘s“ bei Dreharbeiten. Aber richtig langweilig wird es für mich eigentlich nie. Die Magie des Ortes, die Faszination der Serie und dann unser Team: gute Voraussetzungen für einen abwechslungsreichen Dreh. Sieben Drehtage mit derselben Mannschaft ist richtig komfortabel und luxuriös. Auch, wenn viele die Pausen nutzen, um sich etwas abzuschotten, zu lesen oder einfach nur zu chillen, gibt es genug Gelegenheiten, die Kollegen kennen zu lernen.

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Ein bißchen Chillen, bevor die Action weitergeht. Direkt gegenüber von der Marlene Dietrich Halle ist das Haus 3

Es sind einige richtig alte Komparsen-Hasen dabei, die seit vielen Jahren in dem Metier unterwegs sind und fast fünfzig Drehtage im Jahr haben. Aber für einige, wie mich, ist es eine Premiere. Babylon Berlin kennen die meisten. Bis auf das „Kerlchen“, mein Kollege an der Tonangel. Seine Freundin ist Fan der Serie, er hat sie eigentlich nur begleitet zum Casting. Aber dann sollte auf einmal er mitspielen. Und hat sogar einen denkwürdigen Auftritt als Hand-Double für einen erkrankten Ermittler. Extralohn! Meine Hände sind dafür leider zu groß. Das Kerlchen verspricht übrigens, die Serie gleich nach Ende der Dreharbeiten zu gucken – na also.

Aber es gibt auch die Experten. Sie haben alle Bücher von Volker Kutscher gelesen und sind dann auch von der Serie angetan. Schlechte Worte hört man hier nicht über Babylon. Naja, einem älteren Kollegen ist die Gewalt zu explizit, eine Frage der Sehgewohnheiten. Einige andere haben auch schon bei Szenen in den ersten Staffeln mitgewirkt, zum Beispiel bei den Demonstrationsszenen zum Blutmai. Das waren beeindruckende Massenszenen, samt blaue Flecken.

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Bei den Dreharbeiten zum Blutmai in dem Metropolitan Backlot in Babelsberg waren sehr viele Komparsen im Einsatz. ©x-filme Frédéric Batier

Wir Komparsen sind…Informatiker Psychologen, Grafiker, Studenten, Musiker, ehemalige Filialleiter eines Discounters mit Burnout, Arbeitsuchende….einmal quer durch die Berufsschichten. Und wir sind international: Litauer, Italiener, Georgier, Russen, Holländer, Franzosen, Belgier, Spanier…fällt manchmal auf, wenn jemand am Set aus der Reihe tanzt, weil er die Anweisungen nicht sofort verstanden hat. Die Meisten nehmen ihren Job recht ernst. Überlegen sich, wie sie ihre Tätigkeit füllen können oder legen sich sogar kleine Allüren zu wie Marek, der Mann mit dem Zahnstocher. Als Nichtraucher lutscht er permanent seine Zahnstocher durch. Auch, wenn man nachher nicht im Bild ist. Der Respekt vor dem Film und das Berufsethos nötigen uns das ab. Und manchmal gibt es dann auch besondere Glücksmomente wie für Michael, den Garderobier. Es ist Drehschluss, viele Komparsen sind schon weg – die Masken-Crew als erstes. Aber es wird dringend noch ein Komparse aus der Masken-Crew benötigt wurde. Also zieht sich Michael den weißen Kittel an und hat dann einfach einen anderen Job. Der Lohn (neben zwei zusätzlichen Stunden Honorar): Er kann wunderschöne, intime Szenen mit Meret Becker als Sängerin und einem weiteren Hauptdarsteller am Klavier genießen.

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Merkt Becker, neu dabei bei Babylon Berlin – nicht nur eine fabelhafte Schauspielerin, sie kann auch ihr gut singen. ©x-filme Frédéric Batier

 

In den Pausen ist Fachsimpeln über die Zeit ist angesagt. Wir haben viele Experten für unterschiedliche Bereiche dabei. Ist nicht jeder ein kleiner Tom Tykwer? Frank ist auch in seinem eigentlichen Job Kameramann und darf die Seiten wechseln, weiß also, wie man die Kamera damals und heute gehalten hat. Max ist Musiker und findet bedauerlich, daß die Instrumente des kleinen Filmorchesters überwiegend neue Ware aus der Yamaha-Schmiede sind. Er hätte ein wirklich altes Saxophon aus dem Jahr 1924 beisteuern können, aber als Masken-Komparse machen die Musik nun mal die Anderen. Michael ist Experte für Waffen. Und er bemerkt, daß Gereons Waffe in der Serie eine Dreyse ist. Die taucht schon in alten Filmen der Weimarer Republik wie „Das Testament des Dr. Mabuse“ von Fritz Lang auf. Im Buch ist von einer Walther die Rede. Und in Staffel 3 kommt noch eine Steyr dazu…Waffenkunde am Set.

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So eine Waffe hat Gereon: eine frühe Dreyse M1907 mit der Markierung “DREYSE Rheinische Metallwaaren-& Maschinenfabrik ABT. SÖMMERDA”

Ich selbst kenne mich ganz gut in der Literatur aus und bringe ein Buch von Kurt Siodmak aus dem Jahr 1930 mit, „Der Schuss im Tonfilmatelier“. Da geht es auch um einen Mord im Filmstudio. Später stellt sich raus, daß der Roman auch für Volker Kutschers Roman „Der stumme Tod“ Inspiration war. Mehr noch: den passenden Film dazu von 1932 hat sich auch die Crew von Babylon Berlin angeschaut. Viel von dem, was wir in der Marlene-Dietrich Halle sehen und machen, geht also darauf zurück. Wir beschließen, nach Ende der Dreharbeiten gemeinsam den Film anzuschauen.

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Antiquarisch erworben – das Buch von Kurt Siodmak war Inspiration für den Roman “Der stumme Tod” von Volker Kutscher.

Das würden wir auch gerne gleich machen, denn es ist mal wieder Warten angesagt. Und so langsam merken wir die kurzen Nächte doch. Müdigkeit ja, aber Lagerkoller? Keine Chance, denn jetzt kommt der Auftritt der Drei: die Swing-Gang. Die Tanzbären. Die Drei vom Tonkreuz. Max, Micha und Mirko. Tanzen und singen können sie, die Songs der Zeit kennen sie. „Das Fräulein Gerda“ ist gerade der Hit. Vor allem Max hat richtige Entertainer-Qualitäten, ist eine Stimmungskanone. Er war früher Führungskraft in einem größeren Unternehmen, hat viel gearbeitet und hatte irgendwann genug von der Mühle. Heute macht er das, was ihm Spaß macht. Musik, Theater, Film, Tanzen, Klinikclown. Er hat eine eigene Band www.fuchs-von-zimmer.de und ist bei Drehs gerne auch als Tänzer gefragt, durfte schon mit Caroline Herfurth und bei Max Raabe tanzen. Max schafft es sogar, mir einige Schritte bei zu bringen – das will einiges heißen. Sogar die professionellen Tänzer schauen interessiert und machen mit. Marek ist über die Rockabilly-Szene zum Swing gekommen, tobt sich zuhause gerne am Kontrabass aus und trägt auch privat Klamotten wie im Film. Die halten einfach besser. Und Micha ist der Gentleman unter den Dreien. Am Set ist er Regieassistent, also ganz dicht dran an Bellmann, dem Regisseur. Aber ich traue ihm jede Rolle zu: im Smoking bei einer Gala, als amerikanischer Pilot, als Kneipier…das perfekte Filmgesicht.

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Max. Marek. Michael. Nicht am Set, sondern im wirklichen Leben.

Auf jeden Fall: das Warten verbindet. Es sind großartige Menschen – und die Meisten betonen, dass die Atmosphäre hier wirklich besonders ist, anders als bei anderen Drehs. Eine verschworene Gemeinschaft. Wir werden uns wiedersehen, und zwar nicht am Set.

PS: und tatsächlich treffen sich einige zum Public Viewing Babylon Berlin

 

Was haben Brad Pitt, Bruce Willis, Julia Roberts, Dustin Hoffman, Jackie Chan, Robert Redford, Tom Cruise, John Travolta, Marilyn Monroe, Clint Eastwood und Robert de Niro gemeinsam? Sie alle hatten ihren ersten Auftritt als Komparsen. Sozusagen die Hollywood-Version der Story „Vom Tellerwäscher zum Millionär“: vom Komparsen zum Star. Manche bleiben ihr Leben lang Komparse oder Statist. Kein Ruhm, kein roter Teppich, keine Millionen, immer im Hintergrund, im Schatten, am Existenzminimum. Der bekannteste, vielleicht sogar einzige bekannte Komparse überhaupt ist Jesse Heiman. Mit 30 Jahren hat er schon in über 100 Filmen mitgespielt. Aber wenn nicht ein Fan seine Hintergrundsauftritte zusammengeschnitten und auf Youtube gestellt hätte, wäre er weiter der unbekannte Niemand geblieben.

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Auf dem Weg zum Ruhm? Komparsen im Januar 2019 warten auf das Casting für Babylon Berlin

Von mir gibt es noch keinen Zusammenschnitt, es ist mein erster Auftritt. Aber jetzt steht tatsächlich mein kleiner Auftritt, meine persönliche Filmsternstunde, der sehr kleine, aber doch für mich große Moment bevor. Eine Sekunde Fame, vielleicht. Denn jetzt treten Tanz, Akrobatik und auch die Hauptdarsteller in den Hintergrund. Die Kameras haben uns im Visier. Was für eine paradoxe Situation: wir drehen hier im Jahr 1929 einen Film und werden dabei gefilmt, wie wir filmen. Film im Film. Und das in einem Studio, in dem im Ende 1929 Marlene Dietrich ihren ersten großen Erfolg feierte. Aber schön, dass jetzt auch die Filmcrew gewürdigt wird, mit ihren vielen Gehwerken, die das Wunderwerk Film überhaupt erst möglich machen. Ich bin mit meiner schönen, rollenden Tonangel natürlich im Vorteil. Das gibt einfach bessere Bilder als eine statische Filmkamera oder der Tonmann an seinem Mischpult.

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Dreharbeiten zu „Metropolis“ in den UFA-Studios in Babelsberg/©Stiftung Deutsche Kinemathek

Vor mir ein Podest, oben ein Kameramann. Jetzt kommt Tom Tykwer, spricht kurz mit dem Kameramann, dann kommt seine Anweisung an mich. Einfach meine Tonangel seitlich entlang der Linie schieben soll ich. Ganz einfach.

Und…Action. Aber mein Arbeitsgerät ist widerspenstig, stellt sich quer oder fährt Slalom. Ich schwitze. Alles ist, alles muss möglich sein beim Film. Aber das Gerät aus dem letzten Jahrtausend will einfach nicht wie ich. Der Regieassistent hat ein Einsehen. Das Gerät einfach nach vorne schieben und wieder zurück, das müsste doch besser funktionieren und sieht auch ganz ok aus. Ok, zweiter Versuch, nach vorne und wieder zurück. Und zwar immer wieder. Das geht etwas einfacher. Trotzdem ist mein konzentrierter und angestrengter Gesichtsausdruck nicht gespielt. Die Tonangel hoch schaue ich auf das oben hängende Mikrofon. Und bloß nicht über das Kabel fahren beim Rückwärtsgang. Aber da hilft mir das „Kerlchen“, so der Filmname für den „Best Boy“. Er darf das Kabel halten.

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Mein Arbeitsinstrument, die Tonangel. Schwer zu bewegen und etwas wacklig…

Nach dreimal vor und zurück fällt mein Blick dann doch kurz auf den Kameramann. Und ich muss an mich reißen, um schnell weiterzuschauen. Ein Blick in die Kamera ist natürlich eine besondere Komparsensünde. Aber zum einen überrascht mich das Outfit des Kameramanns: Knickerbocker, eine Weste wie ich, komplettes 20er-Jahre Outfit. Haben wir jetzt die Rollen vertauscht? Bin ich auf der falschen Seite? Aber dann sehe ich, wer in dem Kostüm steckt: Frank Griebe persönlich. Kein Kameramann ist wohl gefragter als er in Deutschland. Und kaum eine Person gehört so sehr zu der Tom-Tykwer-Familie. Die beiden lernen sich Ende der 80er Jahre als Filmvorführer in Berlin kennen und drehen ihren ersten Kurzfilm zusammen, 1990. Seitdem ist Griebe bei all seinen Filmen dabei. „Das Auge Tom Tykwers“ wird er auch genannt. Die dritte Staffel von Babylon Berlin ist das erste Mal, wo er aufgrund anderer Projekte nicht zusagen konnte. Bis auf den „Film im Film“ hier in Babelsberg. Und die Rolle nimmt er so ernst, dass er tatsächlich von der Kostüm-Abteilung das passende Outfit bekommen hat. Einer von uns.

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Kameramann Frank Griebe und Regisseur Tom Tykwer beim Dreh am Roten Rathaus für Staffel 1+2 ©x-Filme Frédéric Batier

Cut. Das war’s. Vielen Dank und Schweiß abwischen. Wird diese Aufnahme die Gnade der Cutter finden? In einem Jahr werde ich es wissen…Und schaue mir auf dem Weg nach Hause den Oscarprämierten Film „The Artist“ an. In dem fantastischen Film geht es nicht nur um den Übergang von Stummfilm zu Tonfilm und einen Star, der damit große Probleme hat. Sondern auch um jemanden, der durchs Bild stolpert und dann am Ende ein berühmter Filmstar wird.

 

 

„Dämonen der Leidenschaft“, so heißt der Film, den wir drehen. Es ist das Jahr 1929 und wir befinden uns in den UFA-Filmstudios in Neu-Babelsberg. Wir, die Filmcrew mit Tonmeister, Kameramann, Maskenbildnern, Standfotograf, Regieassistent und noch einigen anderen anonymen Rädchen im Filmbetrieb. Aber wie passt das, wie passen wir in die spannende Welt von Babylon Berlin? Während der Dreharbeiten kommt es zu einem Unfall: die Hauptdarstellerin, Betty Winter, wird von einer herabfallenden Kamera erschlagen. War es ein Unfall? Oder gar Mord? Die Polizei ist schnell vor Ort, in voller Besetzung: Kriminalkommissar Gereon Rath, die Kriminalassistentin Charlotte Ritter, die Assistenten Czerwinski und Henning und Polizeifotograf Reinhold Gräf. Die Dreharbeiten werden sofort gestoppt, Spuren gesichert, natürlich nach „Methode Gennat“, und Zeugen verhört. Und dann taucht auch noch der Armenier auf. Er hat nämlich viel Geld in die Produktion investiert und will, dass die Dreharbeiten schnellstens weitergehen. Und dafür braucht man eine neue Hauptdarstellerin. Die ist schnell gefunden und es kann weitergehen. Dann kommt es zu einem zweiten und dritten Mord. Wer steckt dahinter? Und vor allem: wer ist der Mann mit dem Phantomkostüm? Wird er etwa auch Charlotte ins Jenseits befördern?

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“Dämonen der Leidenschaft”, hier das Drehbuch. Top Secret natürlich!

Hochspannung, dramatische Wendungen – und wir sind mittendrin, Zeugen der Handlung. Meistens warten wir aber, während die Polizei den Tatort untersucht. Und an so einem Filmset gibt es ja für uns harte Arbeiter immer was zu tun. Sachen wichtig von A nach B tragen. Den Boden fegen. Irgendwas aufräumen. Ich bin in der Wartezeit meistens damit beschäftigt, meine wunderbare Tonangel zu pflegen, fast unsichtbare Staubkörner zu finden und zu entfernen, die Kabelschnur aufzuwickeln und dann wieder fallen zu lassen, um sie wieder aufzuwickeln, aber dann fällt sie wieder runter… Beschäftigungstherapie. Die Anweisungen sind relativ offen, Spielraum für Kreativität ist da. Wir sind nicht direkt im Bild. Aber auch, wenn wir nur im Hintergrund zu sehen sind, darf es nicht statisch wirken. Das haben uns unsere Betreuer eingebläut, die Crow Assistant Directors. Drei Leute kümmern sich alleine um uns Komparsen, von unserem Casting über Organisation bis zur Inszenierung. Das zeigt die Größe der Serie, ist so eine umfassende Betreuung doch eher selten. So treffe ich auch Jenny und Yvonne wieder, die schon meinen „Fail“ bei dem Vorsprechen erlebt haben. Aber jetzt geht es weiter! Ein Tanzszene, mit Betty Winter, Hauptdarstellerin in „Dämonen der Leidenschaft“. Ach nee, die ist ja gerade gestorben. Aber ihr Ersatz sieht im Kostüm und mit Perücke kaum anders aus. Vera Lohmann. Klingt nicht so glamourös. Ganz anders als der wirkliche Name der Schauspielerin: Caro Cult – neu dabei bei Babylon. Die Diva steht Vera alias Caro auf jeden Fall gut. Denn gestern war sie noch beleidigt durch das Studio gerauscht, als eine Kollegin als Ersatz für Betty gewählt wurde. Wunderbarer Abgang. Das Gegenteil eines polnischen Abgangs. Aber heute ist alles ganz anders – und die Chance für Vera Lohmann.

Caro Cult alias Vera, die neue Betty Winter. Foto ©Frédéric Batier / ARD / SKY

„First Positions!“: Regieassistent Sebastian Fahr-Brix hat das Sagen in der Marlene Dietrich-Halle, er ist gewissermaßen Arm und Stimme von Tom Tykwer. Seit einem Vierteljahrhundert arbeiten die beiden zusammen. Konzentriert, trotzdem entspannt und souverän tritt er auf. In der ganzen Zeit wirkt Sebastian nie genervt, egal wie spät es ist und auch, wenn dann doch mal ein Handy in den Dreh hineinklingelt. „Ton läuft? – Sound is rolling!“ Jedes Mal freue ich mich, wenn sich der Roland Winke, der (echte) Filmtonmeister mit einer sonoren Bassstimme melde. Für welchen Hollywoodstar er wohl die Synchronstimme wäre, in einem anderen Job? Passt gut zu Robert de Niro oder auch Marlon Brando. Und jetzt: Action! Schon die Tanzszenen aus Staffel 1 waren großartig. Die Choreographie von „Zu Asche, zu Staub“ hat auch Babylon-Berlin-Muffel begeistert. Auch diesmal haben die Tänzer schon mehrere Wochen vor unserem Auftreten an der Choreographie gearbeitet. Unser Tonfilm ist tatsächlich auch ein Tanzfilm, ein frühes Musical. Die Tänzer sehen in ihren Kostümen aus wie eine Mischung aus Harlekin, Meerjungfrau und androgynen Feen. Man kann sie nicht unterscheiden. Wie Klone! Kostüm und Maske haben ganze Arbeit geleistet, wie ich später gleich zweimal realisiere.

Die Tänzer sind fantastisch! Hier mit dem Holzturm für die zweite Kamera und Tom Tykwer sowie Regieassistent Sebastian Fahr-Brix

Ein paar Wochen nach dem Dreh treffe ich bei einem 20er-Jahre-Event die Burlesque-Tänzerin Tara D‘Arson. Und plötzlich stellen wir fest: wir kennen uns ja vom Set! Naja, kennen. Wir waren beide zeitgleich da. Mit dem Erkennen war es schwierig. Oder würdet ihr einen der Tänzer auf dem Foto in der Öffentlichkeit wiedererkennen? Die Maske ist zu gut… Coraline ist Gründerin der Gl‘Amouresque, einer Burlesque-Formation, die unter anderem in der Bar Jeder Vernunft auftritt. Und momentan ist sie mit der Show „Glanz auf dem Vulkan“ unterwegs in Deutschland. Im Herbst dann endlich auch in Berlin.

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Zwei Mitglieder der Gl’Amouresque, Tara D’Arson und Lola La Tease mit Le Pustra und mir im Ballhaus Berlin.

Den anderen Mitstreiter lerne ich erst knapp ein Jahr später kennen: John. John kann (fast) alles. Er ist Akrobat, Sportmodell, Designer, Coach  und ab und zu auch Komparse. Schon bei Staffeln eins und zwei war er dabei. Natürlich im Moka Efti, Tanzen ist ja easy. Aber auch in der Trompete, der wunderbaren Eckkneipe, Stammbar von Gereon. Und jetzt wird es spannend. Hat er etwa den Salto an der Wand gemacht, als Stuntdouble? Denn John ist tatsächlich der Guiness-Rekordhalter für „the most wallflips in one minute“. Glaubt ihr nicht? Schaut hier. Aber John versichert mir, daß Volker das selbst gemacht hat. Und schon der erste Take hat gesessen, siehe Volkers Kommentar dazu: Naturtalent!

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John mit zwei Darstellern aus Babylon Berlin…Zwischen John und der Dame mit Hut bin übrigens ich, gerade bei meinem “Chef”, dem Tonmeister. ©John Förster

Hier am Set hat John aber nicht nur getanzt, er war einer der Akrobaten. Denn diesmal wird mehr geboten als im Moka Efti: einige von den Künstlern wirbeln auf riesigen Trampolinen akrobatisch durch die Luft, springen mehrere Meter hoch. Atemberaubend und spektakulär. Mir stockt der Atem, nicht nur beim ersten Mal. Denn die Szene wird unendlich häufig wiederholt. Aber irgendwann genießen wir einfach nur noch, soweit wir das ohne Vernachlässigung unserer Arbeit können. Und wir haben einen neuen Ohrwurm. Aus „Zu Asche, zu Staub“ wird „Wir sind uns lang…verloren gegangen. Wir sind ein Schweif des gestrigen Zaubers…und in der Seele brennt nicht als Schmerz“.

PS: nicht nur für uns ist das ein absolutes Glück. Auch Liv Lisa Fries sagt später:

Die Film-im-Film-Nummer war für uns Schauspieler natürlich absolut faszinierend. Vor allem, weil der Film-im-Film eben so abgefahren aussieht und inszeniert wird. Da stehe ich dann in der Kulisse nicht nur als Kriminalassistentin Charlotte Ritter, sondern auch als staunende Liv. Da erfreute mich dann, was sich so mancher Kollege in singender und tanzender Weise drauf geschafft hatte

„…und dann komme ich da an und es war immer wieder eine tolle Überraschung, jeden Tag ein Geschenk – wie ein Adventskalender, der sieben Monate lang geht“…so Volker Bruch über die Motive bei Babylon Berlin. Das hat er vor dem Dreh für Staffel 3 in Babelsberg gesagt. Schon unser Aufenthaltsgebäude, die „Extras Holding“ ist beeindruckend. Zwar nicht gemütlich und innen auch nicht wirklich schön, aber das Gebäude ist definitiv ein filmhistorisches Schwergewicht: wir sind im Tonkreuz! Entstanden im „Jahr Babylon“, 1929, dem Handlungsjahr der ersten drei Staffeln. In diesem Jahr löst der Tonfilm den Stummfilm ab. Das war wie eine Revolution, eine der entscheidenden Zäsuren der Filmgeschichte. Nicht nur die Kinos, sondern auch die Filmstudios müssen umdenken und umbauen. Komplett neue Technik und neue Aufnahmegeräten werden benötigt. Die Studios aus Glas und Eisen sind für Tonfilmaufnahmen ungeeignet. Auf dem UFA-Gelände in Babelsberg wird das früh erkannt. Die UFA baut ein völlig neues Gebäude: eben das Tonkreuz.

Eines der alten Filmstudios in Neu-Babelsberg, noch mit viel Glas.

Luftbild auf das alte Studiogelände. Im Vordergrund das Tonkreuz, oben die Marlene Dietrich-Halle. Wir rennen immer zwischen den beiden Gebäuden hin und her.

Auf einer Fläche von 3500 Quadratmetern werden damals vier Tonfilmateliers gebaut, kreuzförmig um einen Innenhof herum angeordnet. Am 24. September 1929 darf dann die Presse ins Tonkreuz kommen und ist überwältigt – vielleicht auch, weil gerade der erste (abendfüllende) deutsche Tonfilm mit Superstar Willy Fritsch gedreht wird: „Melodie des Herzen“. Erster Satz des ersten Tonfilms: „Ich spare nämlich auf ein Pferd“.

Beeindruckende Filmgeschichte. Aber wirklich überwältigend und auch noch älter ist unser eigentlicher Drehort: die Marlene Dietrich-Halle. Gebaut wurde die Halle für das Filmmonstrum „Metropolis“ von Fritz Lang im Jahr 1926.  Damals war hier das größte Filmatelier Europas. Hier saß die Namensgeberin der Halle auf einem Fass und trällerte „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“. Das war im November 1929. Babylon Berlin versetzt uns in den September desselben Jahres. Die „fesche Lola“ war also noch nicht geboren.

Die Marlene-Dietrich Halle von außen. Eher so ein Wellblechpalast

Wir sind bereit. Mal wieder setzt sich unsere Mannschaft in Bewegung. Filmcrew, Tänzer, Musiker und die Komparsenbetreuer. Vom Tonkreuz geht es zu einem Seiteingang in die Marlene Dietrich-Halle. Der Gang, der uns zum Set führt, ist wie ein Zeittunnel. Vom Jahr 2019 neunzig Jahre zurück. In dieser fernen Vergangenheit drehen wir einen Tonfilm, den ersten Tonfilm der deutschen Filmgeschichte, so sagt das Drehbuch. Und werden dabei gefilmt. Film im Film. Set im Set. Reflexives Kino, wie die Profis sagen.

An der Wand der Speisezettel der UFA-Kantine. September 1929, diese Woche gibt es Bratwurst mit Sauerkraut und Salzkartoffeln für 2 Reichsmark. Lecker, lecker, aber leider nicht für uns. In der Marlene Dietrich-Halle ist alles auf 1929 getrimmt. Man könnte denken, die Halle wäre neu für Babylon Berlin gebaut worden. Aber sie ist echt. Also echt alt. Oben die Holzdecke, eine Galerie und diverse Beleuchtergänge, in schwindelerregender Höhe. Hoffentlich braucht man die nicht, schon beim Hochsehen bekomme ich einen flauen Magen. Überall stehen alte Filmrequisiten herum. Das Tonpult, an dem mein „Chef“, der Tonmeister, die Regler fachmännisch verschiebt. Eine Standkamera für den Filmfotografen. In einer Ecke hat die Maske ihre Schminktische und Spiegel aufgestellt. Eine Werkstatt mit Hammer, Besen und Eimern. Ein Holzturm mit einer weiteren Kamera. Eine Sitzecke mit schweren Sofas und einer Flasche Hochprozentigem. Tisch und Stuhl für Regisseur und seine Assistenten….und eine Bühne mit Requisitenteile, die wie eine Mischung aus „Das Cabinet des Dr. Caligari“ und „Metropolis“ aussehen. Expressionismus im Film!

Die Halle “nackt” zur Vermietung freigeben. Und unten im Babylon Berlin-Look, während einer Drehpause. Im Hintergrund rechts meine Tonangel. Musste man viel verändern?

Vor allem aber natürlich: mein Arbeitsgerät. Als Tonassistent arbeite ich an einer großen Tonangel. Auf Rädern, denn glücklicherweise ist die Tonangel zum Tragen erst später erfunden worden. Komfortabel für mich. Voll Bewunderung betrachte ich mein Arbeitsgerät. Und entdecke einen kleinen Aufkleber, kaum zu erkennen, mit der Aufschrift „Besitz des DDR-Filmmuseums“. Das ist ja doppelt historisch: Ein Gegenstand aus der Weimarer Republik, der seinen Weg in die Sammlungen des DDR-Filmmuseums gefunden hat. Das Filmmuseum in Potsdam war das erste Deutschlands, noch vor dem Museum in Frankfurt. Und jetzt ist es eine Requisite für den Film im Film. Und diese Requisite bekommt am dritten Drehtag ihren Auftritt…

Das Abenteuer beginnt…und zwar komplett im Dunkeln. Studiogelände Babelsberg, 5. März 2019, 05:45. Das ist wirklich sehr früh. Eine Herausforderung, wenn man aus dem Prenzlauer Berg kommt und noch eine zusätzliche Stunde zum Einsetzen der neuen Kontaktlinsen einplanen muss. Ich hoffe, die Fingerfertigkeit wird sich in den nächsten Tagen verbessern. Immer mehr Gestalten tauchen aus der Dunkelheit auf. Die meisten allein, aber eine Gruppe ist dabei, man scheint sich zu kennen. Und da diese sehr zielsicher auf ein Gebäude zusteuert, hefte ich mich an sie. Ganz schön jung sehen die alle aus! Bin ich hier richtig? Ja, es sind die Tänzer für Babylon Berlin. Very young and very international.

Ziel ist das Tonkreuz in der Friedrich-Holländer-Straße. Hier ist unser Quartier für die nächsten Tage, die Holding für die „Extras“. So werden auch die Komparsen genannt. Es gibt drei verschiedene Gruppen: die Tänzer, die Musiker und die Filmcrew. Zur letzterer gehöre ich als Ton-Assistent. Der Raum füllt sich nach und nach. Nicht alle haben anscheinend die Anweisung 06:00 pünktlich wörtlich genommen. Ich zähle etwa 75 Komparsen. Beeindruckende Zahl ist das, aber wir sind ja auch bei Babylon Berlin. Es gibt Kaffee, nicht gut, aber warm. Und jetzt beginnt zum ersten Mal das Prozedere, das sich die nächsten Tage für uns wiederholen wird.

Erste Station ist die Maske. Kurzer Abgleich mit dem Foto. Die perfekte Rasur wird gewürdigt, der Scheitel gelegt, ein bißchen die Augenringe verstärkt – was mir im Angesichts der kurzen Nacht als überflüssig erscheint. Patina ist das Zauberwort. „Ach, vielleicht noch ein bißchen Patina für die Hände? Na klar, ihr seid doch hart am Arbeiten“. Schweiß und Augenringe: das war Volker Bruchs Antwort auf die Frage, wie die Maske bei Babylon Berlin aussieht. Der Schweiß kommt später wahrscheinlich automatisch…

Haare glatt, Augenringe ran, ein bißchen Dreck und fertig ist das Babylon-Gesicht….

Nun werden die ersten Komparsen zur Kostümabteilung gebeten, in einem anderen Gebäude. Es geht einen Gang entlang: Blick aus den Augenwinkeln: auf der ersten Tür steht „Gereon Rath“, dann „Charlotte Ritter“ und „Armenier“. Es sind die Zimmer der Hauptdarsteller. Alle bekannt, bis auf „Tristan Roth“, ein Neuzugang. Die Türen sind offen, noch kein Licht, noch keine Charlotte. Erst morgen geht es für sie los, erfahren wir.

Unsere Kostüme mit der passenden Setcard hängen bereit. Mantel und Hut darf ich gleich weglassen. Der Arbeitsplatz für heute wird drinnen sein – wir wissen ja noch nicht wirklich, was uns erwartet. Jetzt kommt der große Moment: Das Line Up der Crew! Brav stehen wir in einer Reihe und warten auf Kostümbildner Pierre Yves Gayraud. Gayraud ist eine ganz große Nummer in seinem Fach. Mit dem Film Indochine (1992) ist er bekannt geworden. Viele Filme habe ich gesehen und geliebt, wie z.B. die Bourne-Identity, ohne zu wissen, dass Gayraud für die Kostüme zuständig war. Auffällig, dass viele historische Stoffe dabei sind, das ist also sein besonderes Steckenpferd. Und dreimal hat er schon mit Tom Tykwer gearbeitet, für die Filme Das Parfüm, Cloud Atlas und Ein Hologramm für den König. Jetzt steht mit Babylon Berlin eines seiner aufwändigsten Projekte bevor. Und anders als bei vorherigen Filmen ist seine Arbeit hier nicht vor oder am Anfang der Dreharbeiten abgeschlossen. Gayraud bleibt über die volle Länge der Dreharbeiten.

Das Moodboard. Historische SW-Aufnahmen, teilweise von Dreharbeiten. Könnte da eine Stunde vorstehen….

Gegenüber entdecke ich eine Fotowand mit Schwarz-Weiß-Fotos. Fotos, die Menschen bei ihrer Arbeit zeigen, bei Dreharbeiten und anderen Tätigkeiten. Das war also die Inspiration für unsere Kostüme! Wie genau die einzelnen Abteilungen arbeiten, wie viel Wert auf Details gelegt wird, wusste ich ja bereits, aber es ist faszinierend, das noch einmal bestätigt zu sehen. „Moodboards“ nennt man das. Gayraud hat in seiner Vorbereitung mehr als 3.000 Bilder gesammelt und kategorisiert. Auch ein Ton-Assistent ist auf den Bildern zu sehen. Meine Rolle, mein Vorbild.

Historische Dreharbeiten. Der Tonmann ist noch am Rumfummeln. Aus solchen Fotos hat Gayraud seine Inspiration für unseren Look. ©Stiftung Deutsche Kinemathek

Jetzt kommt er: Gayraud wirft kritische Blicke auf Kleidung und Look. Ein bisschen komme ich vor wie im Berghain: „Für Dich heute leider nicht“. Zu seinem Kollegen sagt er auf Französisch: die sehen ja aus wie Bankangestellte…oh weh, wir sind zu elegant. Ist ja auch kein Ausflug ins Moka Efti, wir arbeiten ja beim Film. Das bedeutet für mich: statt Jackett eine sehr eng anliegende und kurze Weste sowie ein Kittel. Hhhm, fühlt sich wie ein sozialer Abstieg an.

Falls noch was fehlt: im Kostümfundus gibt es auch noch Ersatz ©X-Filme

Und dann geht es los: noch ein paar Hinweise und Ermahnungen („keine Handys“, na klar), dann bewegt sich unser Tross im Gänsemarsch Richtung Marlene-Dietrich Halle. Hier ist Hochbetrieb. Kabel werden verlegt, ein riesiger Kamerakran wird noch aufgebaut, einige große Requisiten verschoben, Action schon seit Stunden.

Ein paar bekannte Gesichter laufen einem über den Weg. Und als dann Tom Tykwer auftaucht, ist klar: jetzt wird es ernst! Die nächsten Stunden sind ein einziges Schauen, Staunen, Gänsehautgefühl… Die drei Regisseure arbeiten ja getrennt voneinander. So gibt es auch die HH-Unit und die AvB-Unit, für Henk Handloegten und Achim von Borries. Alles drei großartige Regisseure, die, so sagen es die Schauspieler immer wieder, zwar alle komplett anders arbeiten, aber das Ergebnis ist aus einem Guss. Leider kann ich nur einen der Drei beim Arbeiten kennenlernen. Aber mit Henk Handloegten hatte ich schon mal ein inspirierendes Gespräch über Stummfilme, da kennt er sich besser aus als viele Filmhistoriker. Und Achim von Borries kommt ja vielleicht auch mal hier reingeschneit.

Der erste Drehtag ist einer der längsten, gegen 22:00 sind wir fertig. Aber die Zeit vergeht wie im Flug. Ungezählte Eindrücke prasseln auf einen ein, ich fühle mich ein bisschen wie ein Kind zur Bescherung. Noch ein Geschenk zum Auspacken…Was kann da die nächsten Tage noch kommen?

Es fühlt sich komisch an. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren habe ich mich nass rasiert. Mit tadellos glatter Haut sitze ich inmitten von mehreren tausend Kostümen. Wie in einem Kleiderlager der Firma Gerson am Hausvogteiplatz, Ende der 1920er Jahre: um mich herum hängen und liegen Anzüge, Abendkleider, Hemden, Hosen, Schuhe, Polizeiuniformen und Accessoires jeder Art. Aber wir sind im Jahr 2018 und ich befinde mich im Kostümfundus der Serie Babylon Berlin am Berliner Salzufer. Dort warte ich auf die Kostümprobe für meine Tätigkeit als Komparse bei der so erfolgreichen TV-Serie.

Nur ein kleiner Teil des großen Kostümfundus ©XFilme

Wie kommt ein Historiker zu diesem Job? Meine Agentur Zeitreisen ist Partner von Babylon Berlin und bietet Touren zu den Drehorten und zur Geschichte der Weimarer Republik an. In der Geschichte kennen wir uns aus. Aber unsere Gäste wollen ja auch Details von den Dreharbeiten. Daher frage ich bei der Produktionsfirma, ob ich mal einen Tag „schnuppern“, hautnah dabei sein kann. Dass es dann sieben Drehtage als Komparse werden sollten, habe ich mir nicht ausmalen können. Sogar eine kleine Sprechrolle stand im Raum. Aber dafür braucht es dann doch ein richtiges Casting im Babylon Berlin-Headquarter, dem ehemaligen Physikalischen Institut in der Dorotheenstraße. Vor mir ist ein 8jähriger Junge dran. Von Nervosität keine Spur. Ein alter Hase im Filmbusiness, ganz im Gegensatz zu mir. Bedauerlicherweise ist mein Auftritt beim Casting dann noch nicht Hollywood- bzw. Babylonreif. Stolpernd versemmel ich es. Vielleicht hätte ich doch meine Brille aufbehalten sollen, aber die passte ja nicht in die Zeit. Keine sprechende, aber hoffentlich eine tragende Rolle. Diesen Komparsenwitz werde ich noch häufiger hören die nächste Zeit.

Hallo, schöne Frau? Wirst Du die neue Kopfbedeckung von Charlotte? @X-Filme

Jetzt muss ich aber erst mal eingekleidet werden. „Fitting“ in der Filmsprache. „Ah, Du bist der Boom Operator!“, freut sich die Kostüm-Assistentin. Das ist also meine Profession: Boom Operator. Hört sich nach einem Job im Stunt- oder Effekte-Department an. Aber der Boom Operator ist der Ton-Assistent. Einen Job, den es erst seit 1928 gibt, mit der Erfindung des Tonfilms. Ich bin Teil einer Film-Crew, die einen Film im Jahr 1929 dreht. Denn soviel weiß ich schon: Vorlage der Staffel 3 ist „Der stumme Tod“, der zweite Band von Volker Kutschers Romanen, und da kommt es während der Dreharbeiten zu einem Mord. Aber wie kleidet sich ein Boom Operator? Die Kostüm-Assistentin nimmt meine Maße und verschwindet in dem riesigen Kleiderlager.

Während meines Fittings wird permanent weiter gearbeitet…©X-Filme

1.500qm groß ist der Fundus. Aus ganz Europa wurden Stoffe und Original-Kleidung aus den 20er-Jahren zusammengetragen. Wer während der Dreharbeiten ein zeitlich ähnlich gelagertes Filmprojekt plant, wird es nicht einfach haben, an Originale ranzukommen. Denn die gilt es, als erstes zu sichern. Aus den Originalen werden dann die anderen Kostüme abgeleitet, die von dem großen Team geschneidert werden. Passend für die Größe der Schauspieler, denn, so Kostümdesignerin Bettina Seifert: “Die Sachen waren alle kleiner geschnitten. Wenn jemand kommt, der 1,98 Meter groß ist, dann muss man etwas Neues anfertigen.” Und mit Sabin Tambrea und Ronald Zehrfeld kommen ja zwei Hauptdarsteller da schon nah dran! Nach dem Schneidern erfolgt dann noch ein weiterer, faszinierender Schritt: das „Aging“. Denn die Kleidung muss nicht nur gebraucht und getragen, sondern teilweise auch etwas schmutzig aussehen. Zum Zeitgeist der 20er Jahre gehört eben auch Dreck. Mit Sprühflaschen, Pulvern, Teesieben und Bürsten bekommen die Kostüme das richtige Zeitkolorit.

Das hätte mir auch gefallen! Für Recht und Ordnung sorgen. Erinnert ihr euch an die Szenen vom 1. Mai? Das ist viel Polizei im Einsatz ©X-Filme

Meine Kleidung ist gefunden. Bestehend aus Hemd, Hose, Hosenträger, Krawatte, Anzugsjacke, Mantel und Hut. Und Schuhen natürlich. Schon vom Angucken bekomme ich Blasen. Da muss er durch. Nun will mich die Maske noch mal sehen. Frisur passt, nachdem die Locken glatt gekämmt werden. Piercings und Tattoos kann ich nicht vorweisen, sehr gut.  Jetzt kommt das obligatorische Foto: Die Babylon-Berlin-Setcard, damit die Kostümabteilung bei den Dreharbeiten auch schnell abgleichen kann, ob alles stimmt. Ich bin Nummer 1674. Das ist noch Platz nach oben – für die erste Staffel wurden 5.000 Komparsen gesucht. Als ich später das Foto Freunden zeige, erkennt mich kaum jemand. Kein Bart, keine Brille, dazu das Kostüm: ich bin in dem Jahr 1929 angekommen. Jetzt heißt es, noch eine Woche Warten, dann geht es los, mein Abenteuer „Babylon Berlin“!

Meine Set-Card. Ordentlich rasiert, Scheitel sitzt, Krawatte auch. So erkennt mich keiner….

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